“F*tze, Drecksstück, …” Klinik-Pflegerin packt aus

Gewalt gegen Klinik-Mitarbeiter nimmt zu - wie schlimm ist sie wirklich? Eine große Umfrage unter Kliniken im Kreis Wesel, in Mülheim, Oberhausen, Gladbeck, Bottrop und Gelsenkirchen zeigt jetzt erstmals, wie die Situation vor Ort ist - und was sich ändern muss.

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“Und da hat er einfach Gas gegeben, ausgeholt und mir eine geknallt ins Gesicht.” Andrea erinnert sich noch gut an diese Szene. Andrea arbeitet seit 20 Jahren in der Notaufnahme, aktuell im Evangelischen Klinikum in der Gelsenkirchener Innenstadt. “Es sind viele Beleidigungen dabei - von der Fotze bis zum Drecksstück. Das sitzt. Ich muss nicht tätlich angegriffen werden, um hier manchmal belastet aus dem Dienst rauszukommen”, sagt ihre Kollegin Mareen, die seit 15 Jahren als Pflegerin und seit zwei Jahren in der Notaufnahme in Gelsenkirchen arbeitet.

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Über 300 Übergriffe im Ev. Klinikum Gelsenkirchen

Die beiden und ihre Kollegen haben gezählt: ein Jahr lang, alle Übergriffe, Beleidigungen und körperliche Angriffe. Auf über 300 kommen sie in der Notaufnahme des Evangelischen Klinikums - allein für das Jahr 2023. “Gewalttaten am Arbeitsplatz, die können Ihnen den Laden lahmlegen”, sagt Chefarzt Norman Hecker, Leiter der Notaufnahme. Er fordert, dass Gewalt gegen Klinikkräfte landesweit zum Thema gemacht wird.

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Pflegerin Andrea© Radio Emscher Lippe
Pflegerin Andrea
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Doch wie groß ist das Problem am Niederrhein und im Ruhrgebiet wirklich? Erstmals haben wir versucht, ein umfassendes Bild darüber zu bekommen: Radio K.W., Radio Mülheim, Radio Oberhausen und Radio Emscher Lippe haben fast alle Kliniken bei uns angefragt - im Kreis Wesel, Oberhausen, Mülheim, Gladbeck, Bottrop und Gelsenkirchen: Wie viele Angriffe auf Klinikmitarbeiter gab es im Jahr 2023? Was sind Ursachen, was Lösungen? Und wie hat sich das Problem in den vergangenen Jahren entwickelt?

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Fast alle angefragten Kliniken am Niederrhein und im Ruhrgebiet schreiben uns, dass das Problem zuletzt größer geworden ist. “Insgesamt ist eine Tendenz zur Verrohung der Gesellschaft festzustellen, die auch vor den Patientinnen und Patienten nicht Halt macht”, schreibt uns zum Beispiel eine Sprecherin des Johanniter Krankenhauses Oberhausen (JKO).

Fast keine Klinik erfasst genaue Daten zu Übergriffen

Aber: Wie schlimm ist es wirklich? Das wissen die meisten Kliniken selbst nicht genau. Wir haben insgesamt 26 Kliniken im Ruhrgebiet und am Niederrhein angefragt: Keine einzige Klinik - mit Ausnahme des Evangelischen Klinikums in Gelsenkirchen - erfasst verbale und körperliche Angriffe genau.

Manche geben immerhin Schätzungen ab: Von 20 bis 30 Angriffen pro Jahr geht zum Beispiel das Marienhospital in Bottrop aus. Dabei geht es aber nur um Vorfälle, in denen auch die Polizei gerufen wird. Im Johanniter-Krankenhaus in Oberhausen kam es zu 14 Angriffen mit Verletzten in der geschlossenen Psychiatrie.

Der Klinikverbund, zu dem auch das St. Vinzenz-Hospital Dinslaken und das St. Josef Krankenhaus Moers gehören, musste im vergangenen Jahr 25 Strafanzeigen an vier Standorten stellen. An der Helios St. Elisabeth Klinik in Oberhausen kommen verbale Übergriffe laut Klinik-Konzern mehrmals die Woche vor.

Auch das Evangelische Krankenhaus Mülheim sieht eine Zunahme der Gewalt gegen die Mitarbeiter, konkrete Zahlen gibt es aber auf Nachfrage nicht.

Evangelisches Klinikum in Gelsenkirchen© Radio Emscher Lippe
Evangelisches Klinikum in Gelsenkirchen
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Krankenhaus in Moers: Körperliche Gewalt kommt eher selten vor

“Nahezu täglich” komme es zu Übergriffigkeiten, schreibt uns der Klinikverbund KERN, der für mehrere Krankenhäuser in Gladbeck, Bottrop und Gelsenkirchen zuständig ist.

Wichtig ist den Kliniken aber auch: Die meisten Angriffe sind keine körperliche Gewalt: “Viele Mitarbeiter:innen machen Erfahrungen insbesondere mit Gewalterlebnissen verbaler Natur”, so die Chefärztin der Klinik für Notfallmedizin, Dr. Andrea Kutzer, vom Krankenhaus Bethanien Moers. Körperliche Gewalt komme eher selten vor.

Schwerpunkt der Angriffe sei meist die Notaufnahme, aber auch in der Psychiatrie komme es zu Übergriffen.

Insgesamt ist eine Tendenz zur Verrohung der Gesellschaft festzustellen, die auch vor den Patientinnen und Patienten nicht Halt macht.

Alkohol, Drogen, Persönlichkeitsstörungen oder akute Psychosen: Nach Einschätzung der meisten von uns angefragten Kliniken kommt es bei Patienten, die unter solchen Einflüssen stehen, am häufigsten zu Übergriffen. Doch auch Angehörige würden immer wieder aggressiv, sagen uns mehrere Kliniken. “In der Zentralen Notaufnahme bedrohen Angehörige von Patienten nicht selten das Personal, weil es schneller gehen und die Behandlung unverzüglich durchgeführt werden soll”, so die Sprecherin am Knappschaftskrankenhaus Bottrop. Patienten und Angehörige in der Notaufnahme seien zunehmend ungeduldig bei den Wartezeiten, sagen uns fast alle Kliniken. Die Hemmschwelle zu Gewalt sei gesunken.

Security, Deeskalationstrainings, Notrufknöpfe: So schützen sich die Mitarbeiter

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Obwohl konkrete Zahlen zu verbalen und körperlichen Übergriffen gegen das Krankenhauspersonal von fast keiner Klinik erfasst werden, gibt es bei so gut wie allen Maßnahmen zur Prävention und Deeskalation. Dazu gehören zum Beispiel regelmäßige Deeskalationstrainings, Schulungen zu gewaltfreier Kommunikation, Notrufknöpfe für den Ernstfall oder sogar externes Sicherheitspersonal.

Krankenhaus in Oberhausen arbeitet mit Polizeisportverein zusammen

“In den Abendstunden sind bei uns Mitarbeiter einer Security-Firma im Einsatz, die auch im Notfall gerufen werden können”, erklärt uns das Marienhospital Bottrop. Das Johanniter Krankenhaus Oberhausen arbeitet fest mit der Polizei zusammen: “Beispielsweise besteht unter anderem eine Kooperation mit dem Polizeisportverein Oberhausen. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter können dadurch an Selbstsicherheitskursen teilnehmen.”

Das Evangelische Krankenhaus Mülheim setzt ebenfalls abends und nachts auf einen Sicherheitsdienst. Werde eine Grenze überschritten, spreche man den Besuchern auch Hausverbote aus.

Deeskalationstraining in Gelsenkirchen© Radio Emscher Lippe
Deeskalationstraining in Gelsenkirchen
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Im Evangelischen Klinikum in Gelsenkirchen gibt es regelmäßig Deeskalationstrainings - auch für Mareen und Andrea aus der Notaufnahme. Mareen findet, dass solche Trainings in jedem Krankenhaus angeboten werden sollten: “Das hilft uns sehr. Zu verstehen, wie reagieren Patienten, was löst vielleicht was aus? Und wie können wir reagieren, um diese Eskalation eben nicht zu haben?” Manchmal seien es Kleinigkeiten, die das Fass zum Überlaufen bringen könnten. In einer geschlossenen Einrichtung im Krankenhaus etwa könne schon ein offen getragener Schlüssel eine Provokation sein. Auch die Körpersprache spielt eine entscheidende Rolle.

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Wer aber Action, Rollenspiele und Karate-Skills sucht, ist im Deeskalationstraining falsch. In dem Kurs geht es vielmehr darum, Situationen so zu meistern, dass sie erst gar nicht eskalieren. Auf Details achten, das ist Trainer Dennis von Heesen ganz wichtig. Hat der Patient eine Lieblingsband? Einen Fußballverein? “Oft sind es keine großen Formeln, sondern ganz viel Einfaches aus dem Alltag.” Oft habe man allein durch etwas Smalltalk aufgeheizte Situationen beruhigen können - mit Empathie gehe vieles, sagt Dennis.

Kampagne #sicherimDienst - bei uns kaum verbreitet

Die Präventionskampagne #sicherimDienst vom NRW-Innenministerium möchte Beschäftigte im öffentlichen Dienst miteinander vernetzen und setzt sich für ihren Schutz ein. Dazu gehören zum Beispiel gezielte Handlungsempfehlungen für die Beschäftigten in übergriffigen Situationen. Aus unseren Anfragen an die Kliniken geht allerdings hervor, dass die allerwenigsten bisher Teil des Netzwerks sind. Den Evangelischen Krankenhäusern in Oberhausen und Mülheim ist das Netzwerk nach eigener Aussage nicht bekannt. Das Evangelische Klinikum Gelsenkirchen hingegen ist schon Mitglied in dem Netzwerk, genau wie das Marienhospital Wesel. Beim Johanniter Krankenhaus Oberhausen sei eine Teilnahme derzeit in Planung. Das Angebot #sicherimDienst ist kostenlos.

Norman Hecker, Chefarzt der Notaufnahme des Ev. Klinikums Gelsenkirchen© Olaf Ziegler / FUNKE Foto Services GmbH
Norman Hecker, Chefarzt der Notaufnahme des Ev. Klinikums Gelsenkirchen
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Norman Hecker, Chefarzt der Notaufnahme in Gelsenkirchen, appelliert: “Sie müssen erstmal wissen, dass es dieses Problem gibt und es akzeptieren. Und dann geht es um die Deeskalation.” Schon eine gefühlte Bedrohung sei schlimm, aber eine echte Verletzung habe gefährlichen Charakter - umso wichtiger sei, sich dem Thema anzunehmen und zu versuchen gegenzusteuern.

Es gibt keinen anderen Beruf, der mich so erfüllen würde.

Auch wenn Pflegerin Mareen schon “häufig” darüber nachgedacht habe, den Job zu wechseln, sagt sie: “Es gibt keinen anderen Beruf, der mich so erfüllen würde.” Man sei “ein Team” und man helfe sich gegenseitig. Sie wünscht sich Verständnis - von beiden Seiten. “Ich möchte, dass ernst genommen wird, was ich hier leiste, was wir hier alles leisten. Jeder will, dass einem in einer Notsituation geholfen wird, von freundlichem Personal. Und Freundlichkeit geht in beide Richtungen.”

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