Recherche: So öko ist Dein Öko-Gastarif wirklich

Erdgas verheizen - aber mit gutem Gefühl. Viele Gas-Anbieter bei uns im Ruhrgebiet und am Niederrhein versprechen, mit "Ökogas" oder "Klimagas" das Klima zu schützen. Doch unsere Recherchen zeigen jetzt: So grün ist das Erdgas nicht.

© Statkraft
  • "Obwohl Sie wie gewohnt Erdgas nutzen, leisten Sie gleichzeitig einen wichtigen Beitrag zum Klimaschutz." So beschreibt der Gelsenkirchener Energieversorger "erenja" seinen "Klimagas"-Tarif auf der Homepage.
  • "Schützen Sie die Umwelt und leisten Sie Ihren persönlichen Beitrag zum Klimaschutz mit unserem „KaLiGas Natur“-Tarif", heißt es auf der Homepage der Stadtwerke Kamp-Lintfort.
  • "Eine klassische Win-win-Situation" ist das Klimagas für die Stadtwerke in Voerde.

Doch Recherchen von Radio K.W., Radio Oberhausen, Radio Mülheim und Radio Emscher Lippe gemeinsam mit dem Recherchenetzwerk CORRECTIV zeigen jetzt: Die Versprechen laufen oft ins Leere - Experten halten das angebliche "Klimagas" oft für weit weniger klimafreundlich als von den Unternehmen angegeben.

Das Grundprinzip: Wiedergutmachung für klimaschädliches Erdgas

Erdgas stößt beim Verbrennen CO2 in die Luft aus - es verursacht also Schäden am Klima. Doch viele Unternehmen haben dafür eine Lösung gefunden: CO2-Kompensation. Das Prinzip: Um den CO2-Schaden hier bei uns zu kompensieren, werden anderswo auf der Welt Projekte mit Geld umgesetzt, zum Beispiel Wasserkraftwerke oder Windräder. Das Ganze läuft über einen Kompensationshandel. Gasversorger wie erenja oder die Stadtwerke Kamp-Lintfort können CO2-Gutschriften aus Klimaschutzprojekten kaufen - und so den eigenen Gastarif klimaneutral anbieten. Das CO2, das hier ausgestoßen wird, soll also anderswo auf der Welt, zum Beispiel in Indien oder China, eingespart werden.

Correctiv-Recherche stellt massive Mängel fest

Das Recherchenetzwerk CORRECTIV hat sich gemeinsam mit Experten die CO2-Gutschriften von 150 deutschen Gasversorgern angeschaut - für den Zeitraum von 2011 bis 2024. 116 der Gasversorger haben demnach Gutschriften aus Projekten gekauft, die laut wissenschaftlicher Einschätzung mit sehr großer Wahrscheinlichkeit kein oder weniger CO2 reduziert haben als angegeben. Heißt: Mit sehr großer Wahrscheinlichkeit wurden deutschlandweit über 10 Millionen Tonnen weniger CO2-Emissionen reduziert als von den Gasversorgern behauptet. Auch Energieversorger bei uns im Ruhrgebiet und am Niederrhein haben fragwürdige Gutschriften verwendet, um ihre Tarife klimaneutral zu stellen.

Der Ökogas-Trick in Gelsenkirchen

Der Gasversorger erenja ist eine Tochterfirma von Gelsenwasser mit Sitz in Gelsenkirchen. Mit dem Klimagas-Tarif von erenja "schützen wir alle das Klima, denn mit jeder verbrauchten Kilowattstunde werden weltweit Projekte zur CO2-Einsparung, die es sonst vielleicht nicht gäbe, unterstützt". Doch ist das wirklich so? Konkret hat erenja im vergangenen Jahr 45.629 CO2-Gutschriften eingelöst. Das heißt, erenja gibt an, über 45.000 Tonnen CO2 zusätzlich reduziert zu haben. Die Gutschriften stammen aus einem Wasserkraftwerk in Indien. Laut Projektwebsite produziert es im Jahr 802 Gigawattstunden grüne Energie durch Wasserkraft. Ans Netz gegangen ist es im Jahr 2010.

Prof. Dr. Marcus Nüsser von der Uni Heidelberg© Privat
Prof. Dr. Marcus Nüsser von der Uni Heidelberg
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Prof. Dr. Marcus Nüsser von der Uni Heidelberg hat vor einigen Jahren u.a. zu genau diesem Wasserkraftwerk geforscht und sagt: "Das Wasserkraftwerk wäre auch ohne die zusätzlichen Einnahmen aus dem Handel mit diesen CO2-Gutschriften finanziert worden." Der Beginn der Bauarbeiten sei deutlich früher gewesen als die Verhandlung über den Status als CO2-Kompensationsprojekt. Die Folge: Das Wasserkraftwerk in Indien sei mit sehr großer Wahrscheinlichkeit unabhängig von den Einnahmen aus den CO2-Gutschriften ans Netz gegangen. Heißt: Durch die CO2-Gutschriften wurde mit sehr großer Wahrscheinlichkeit kein zusätzliches CO2 reduziert.

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Das Wasserkraftwerk in Indien, aus dem die CO2-Kompensationsgutschriften bei der erenja stammen.© Google
Das Wasserkraftwerk in Indien, aus dem die CO2-Kompensationsgutschriften bei der erenja stammen.
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Das sieht auch Jutta Kill so. Sie ist Biologin und verfolgt Kompensationsgeschäfte seit mehr als 20 Jahren. "Wenn das Wasserkraftwerk schon läuft, schon gebaut ist, schon Strom erzeugt, dann ist klar, dass es nicht an den Kompensationsgutschriften hing, ob dieses Kraftwerk gebaut wurde oder nicht." Mit sehr großer Wahrscheinlichkeit hat erenja laut den Wissenschaftlern also rund 45.000 Tonnen weniger CO2 zusätzlich reduziert als angegeben bzw. vermutet.

Und die Kritik geht noch weiter: Laut Prof. Dr. Marcus Nüsser seien für das Projekt vor Ort Bäume abgeholzt worden. Ein Fluss sei so verändert worden, dass der Flusslauf zeitweise trockenliege. Das führe zu weiteren Veränderungen im gesamten Ökosystem.

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Der Ökogas-Trick in Voerde

Auch die Stadtwerke Voerde haben sich mit diesem Wasserkraftwerk in Indien Erdgas-Tarife klimaneutral stellen lassen. "Auf der einen Seite leisten die Stadtwerke Voerde so einen wichtigen Beitrag zum Umweltschutz. Auf der anderen Seite steht die Schaffung von Arbeitsplätzen bei umweltorientierten Unternehmen in oft wenig entwickelten Regionen." So bewerben die Stadtwerke den "Klimagas"-Tarif. 263 Gutschriften flossen in den vergangenen Jahren in das umstrittene Projekt. Die Folge: Sehr wahrscheinlich wurden 263 Tonnen weniger zusätzliches CO2 reduziert als angegeben.

Der Ökogas-Trick in Kamp-Lintfort

Auch die Stadtwerke Kamp-Lintfort werben mit ihrem Tarif "KaLiGas Natur": "Schützen Sie die Umwelt und leisten Sie Ihren persönlichen Beitrag zum Klimaschutz", bewirbt das Unternehmen den Tarif. Die Kilowattstunde kostet 0,36 Cent Aufpreis - dafür wird der Tarif klimaneutral angeboten. Das Recherchenetzwerk CORRECTIV hat in den vergangenen Jahren jedoch 122 CO2-Kompensationsgutschriften identifiziert, die mindestens fragwürdig sind. Die Gutschriften gingen in das Projekt "300MW Hydropower project by JHPL" am Himalaya in Indien. Dr. Benedict Probst ist Forscher am Max-Planck-Institut für Innovation und Wettbewerb in München. Der Umweltökonom beschäftigt sich mit der Qualität von CO2-Kompensationszertifikaten. "Das Kraftwerk mag CO2 einsparen - aber die Zertifikate nicht. Denn das Kraftwerk wäre so oder so gebaut worden", sagt Probst.

Forscher Benedict Probst© Privat
Forscher Benedict Probst
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Ein Indiz dafür sei, dass die Planung und der Bau des Wasserkraftwerks schon lange vor dem Verkauf der Zertifikate begonnen habe. Sprich: Ob Geld aus den Zertifikaten reinkommt, sei nicht ausschlaggebend für die Entscheidung gewesen, das Kraftwerk zu bauen. Somit haben die Stadtwerke Kamp-Lintfort mit sehr großer Wahrscheinlichkeit 122 Tonnen CO2 weniger zusätzlich eingespart als versprochen.

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Der Ökogas-Trick in Moers

Auch die Enni in Moers hat Geld in ein Wasserkraftwerk am Himalaya Indien gesteckt, um Tarife auf Kundenwunsch als klimaneutral anzubieten. Hier geht es insgesamt um 16 Tonnen CO2, die sehr wahrscheinlich nicht zusätzlich eingespart wurden - anders als suggeriert. Seit 2001 ist das Werk am Netz. 2019 bzw. 2020 hat die Enni die Gutschriften eingelöst. "Wenn das Wasserkraftwerk schon läuft, schon gebaut ist, schon Strom erzeugt - dann ist klar, dass es nicht an Kompensationsgutschriften hing, ob dieses Kraftwerk gebaut wurde oder nicht", sagt die Biologin und Umwelt-Expertin Jutta Kill im Gespräch mit unserer Redaktion.

In dieses Wasserkraftwerk am Himalaya in Indien hat die Enni in Moers Geld gesteckt.© Statcraft
In dieses Wasserkraftwerk am Himalaya in Indien hat die Enni in Moers Geld gesteckt.
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Uralt-Gutschriften sollen Klimaneutralität suggerieren

Was uns bei den Recherchen immer wieder auffällt: Teilweise vergehen Jahre oder sogar Jahrzehnte, bis die Gutschriften gekauft bzw. eingelöst werden. Das hat laut Experten einen bestimmten Grund: Je älter die Gutschriften, desto billiger werden sie in der Regel. Beispiel Stadtwerke Wesel: Insgesamt 33.750 Gutschriften hat das Unternehmen in den vergangenen Jahren eingelöst. Im Jahr 2023 wurden zum Beispiel 17.500 Gutschriften (also umgerechnet 17.500 Tonnen CO2) aus einem Wasserkraftprojekt in China eingelöst. Die tatsächliche Reduktion von CO2 in diesem Kraftwerk hat aber schon 2008 stattgefunden - 15 Jahre zuvor. Das Gleiche fällt bei den Stadtwerken Voerde, bei der EVO in Oberhausen und bei erenja in Gelsenkirchen auf: Zwischen tatsächlicher Reduktion von CO2 und der Einlösung der daraus gewonnenen Gutschriften liegen jeweils 6 bis 9 Jahre.

"Der Schaden, der heute verursacht wird, soll ausgeglichen werden mit Einsparungen, die das Klima längst eingepreist hat", sagt die Umwelt-Expertin Jutta Kill. "Das passt doch nicht. Der Schaden ist doch heute. Und das, was vor etlichen Jahren vermieden wurde, kann doch heute den Schaden gar nicht mehr ausgleichen."

Das, was vor etlichen Jahren vermieden wurde, kann doch heute den Schaden gar nicht mehr ausgleichen.

Was sagen die Energieversorger dazu?

Wir konfrontieren die Energieversorger mit unseren Recherchen - die weisen die Verantwortung größtenteils von sich. "Eine Prüfung der Umsetzung der Projekte vor Ort durch uns ist nicht möglich", sagt zum Beispiel erenja. Man verlasse sich auf Angaben und die Prüfung der Zertifikate durch vom TÜV anerkannte Standards. Dass zwischen tatsächlicher Reduktion von CO2 und der Einlösung teilweise viele Jahre liegen, sei "gängige Praxis". Gleichwohl schreibt uns erenja bezogen auf das konkrete Wasserkraft-Projekt in Indien aber auch: "Mit diesem Projekt werden wir zukünftig kein CO2 mehr kompensieren". Man erfülle "alle rechtlichen Anforderungen in Zusammenhang mit Ausgleichszertifikaten".

Mit diesem Projekt werden wir zukünftig kein CO2 mehr kompensieren.

Ähnlich argumentieren die Stadtwerke Voerde. Auch sie wollen mit dem umstrittenen Wasserkraft-Projekt kein CO2 mehr kompensieren. "Wir werden alle rechtlichen Vorgaben diesbezüglich einhalten."

Die Stadtwerke Kamp-Lintfort sagen auf unsere Anfrage: "Natürlich können wir nicht beurteilen, ob es sich in Indien um ein Projekt handelt, das auch ohne Geld aus den CO2-Kompensationen umgesetzt worden wäre. [...] Hier können wir uns nur - wie ein normaler Verbraucher - auf die vordergründige Produktinformationen verlassen." Grundsätzlich seien Gastarife mit CO2-Kompensationen aber ein "Nischenmarkt". Es habe nur wenige Kunden gegeben, die einen Aufpreis für den Klima-Tarif gezahlt hätten.

Die Enni in Moers bezweifelt die Ergebnisse der Recherche: "Denn wir haben die durch uns benötigten Zertifikate bei einem anerkannten Anbieter eingekauft und auch entwertet." Und auch hier sei das Angebot eher ein Nischenprodukt gewesen - für spezielle Kundenwünsche. Einen grundsätzlichen Klima-Tarif gebe es gar nicht. Enni setze "stark auf nachhaltige Themen" und gehöre mit hundert Projekten "zu den Treibern der Energiewende am Niederrhein".

Auch die Stadtwerke Wesel gehen davon aus, dass man "mit diesen Qualitätsstandards die CO2-Kompensation für das Erdgas erreicht" habe.

Die EVO in Oberhausen schreibt uns, man sei sich der "besonderen Verantwortung als Energieversorger hier sehr bewusst". Oberhausen werde heute schon zu einem hohen Anteil mit klimafreundlicher Fernwärme versorgt. In Zukunft wolle man massiv in die Netze investieren und für die Einbindung erneuerbarer Energien rüsten.

Sich herauszureden, dass man sich auf die Zertifikate verlassen hat, ist für mich eine ziemlich faule Ausrede.

Expertin: Nicht auf Zertifikate verlassen

"Wer mit klimaneutralem Erdgas wirbt, muss auch nachweisen können, dass es wirklich klimaneutral ist. Sich herauszureden, dass man sich auf die Zertifikate verlassen hat, ist für mich eine ziemlich faule Ausrede", sagt die Biologin Jutta Kill im Gespräch mit unserer Redaktion. Und der Umweltökonom Dr. Benedict Probst sagt uns: "Jetzt ist vielleicht der Zeitpunkt gekommen, nochmal genau hinzuschauen und diese Produkte neu zu evaluieren. Aus meiner Sicht sollten eigentlich all diese Produkte das Label "klimaneutral" verlieren oder darauf verzichten."

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Unsere Recherche hat erste Konsequenzen

Die Stadtwerke Wesel beenden das Geschäft mit CO2-Kompensationen vorerst. "Seit dem 1.1.2024 haben unsere Neukundentarife und die Gasgrundversorgung kein kompensiertes Erdgas mehr als Eigenschaft", schreibt uns ein Sprecher.

Und Bert Buschmann, Vertriebsleiter bei den Stadtwerken Kamp-Lintfort, sagt uns im Gespräch: "Für die Zukunft werden wir uns überlegen, diesen Tarif [mit der CO2-Kompensation] einzustampfen. Wir können das selbst nicht kontrollieren, sondern verlassen uns auf die Kontrollen durch TÜV und Co."

Auch die EVO in Oberhausen hat reagiert: "CO2-neutrale Tarife mit Ausgleichsprojekten bieten wir nicht mehr an." Aktuell würden noch 370 Bestandskunden auf eigenen Wunsch über einen solchen Tarif versorgt.

Bald könnte es auch juristische Konsequenzen für einige Erdgas-Versorger in Deutschland geben. Die Deutsche Umwelthilfe hat 15 Versorger in Deutschland dazu aufgefordert, "verbrauchertäuschende Werbung" für "angeblich klimaneutrales Erdgas" zu beenden und entsprechende Unterlassungserklärungen abzugeben. Die Versorger bei uns sind aber nicht von diesen Unterlassungsaufforderungen betroffen.

Aus meiner Sicht sollten eigentlich all diese Produkte das Label "klimaneutral" verlieren oder darauf verzichten.

Was könnt ihr als Verbraucher jetzt tun?

Experten wie Jutta Kill oder Benedict Probst warnen davor, sich nur auf vermeintliche Ökogas-Tarife zu verlassen. "Das klingt zu schön um wahr zu sein", sagt Jutta Kill. "Wenn man dem Klimaschaden Rechnung tragen will, da gibt es viele andere Möglichkeiten. Die Kompensation ist sicherlich keine." Sprich: Den Aufpreis für Ökogas-Tarife könnt ihr euch in vielen Fällen sparen - und damit anderes tun. Die Verbraucherzentrale hat hier ein paar Tipps zusammengestellt, wie ihr sinnvoll in Umweltschutzprojekte investieren könnt. Das können auch lokale Projekte sein - ihr müsst nicht nach Indien oder China investieren.

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